Zu den Eigentümlichkeiten des »Faust II« gehört es, dass Goethe darin eine Vielzahl von Wissenselementen eingearbeitet hat. Die Funktion dieser Anspielungsfülle wird mit dem Begriff der 'Archivpoetik' belegt. Damit werden drei Aspekte der Bezugnahme auf das Archiv der Epoche bezeichnet, deren Untersuchung sich diese Studie widmet. Erstens stellt sie Goethes gelehrtes Verfahren in einen Bezug zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte. Dies geschieht beispielhaft, indem sie die Bedeutung der Geologie, der wissenschaftlichen Mythosforschung, der Philologie und der Weltliteratur für das Drama herausstellt. Zweitens fragt sie nach den Verfahren, die dieses Wissen poetisieren: Durch Selektion und Rekombination erfährt das Archiv eine Dramatisierung, durch die es überschritten wird. Doch zugleich bleibt der dramatische Text auf die in ihm geborgenen Wissensinhalte transparent. So bildet das Archiv ein Reflexionsmedium, in dem sich die Dichtung in ihrem Verhältnis zum Wissen selbst thematisieren kann. Diese Reflexion betrifft insbesondere die Möglichkeit symbolischer Repräsentation in der Zeit einer radikalen Temporalisierung des Wissens, die im »Faust II« zur ästhetischen Utopie wird, während ihre Realisierung aber durch die moderne Wissenschaft in Frage gestellt ist. Die Modernität des »Faust II« muss daher weniger in seinen Gegenständen als vielmehr in dieser Form der Selbstreflexion der Poesie gesehen werden.

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Archivpoetik Steffen Schneider

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