Ausgleich und Kampf

Vorwort zu Xiaojing Wang: Ausgleich und Kampf Xiaojing Wangs Studie bildet die überarbeitete Fassung einer Magisterarbeit, die aus einem meiner komparatistischen Seminare hervorgegangen ist. Sie befasst sich mit einem Gegenstand, der in der chinesischen Literaturwissenschaft intensiv diskutiert worden ist. Kafkas Erzählung als der in China bekannteste seiner Texte (angefangen beim Leseprogramm der höheren Schulen) und Pu Songlings klassische Erzählung aus dem 17. Jahrhundert sind, als gesellschaftskritische Darstellungen plötzlicher Verwandlungen eines Menschen in ein Tier, immer wieder als Parabeln über gesellschaftliche Entfremdung unter dem Feudalismus oder dem Kapitalismus gelesen worden. Frau Wangs Studie setzt sich mit dieser etablierten Lesart kritisch und kenntnisreich auseinander. Ausgehend von Übersetzungsproblemen, die sich sogleich auch als Probleme des Kulturtransfers erweisen, arbeitet sie Missverständnisse der Rezeption heraus, entwirft eine kulturwissenschaftlich kontextualisierte Neulektüre und vergleicht dabei kulturvariante mythische Erzählstrukturen und die damit einhergehenden sozialen Konstellationen und ethischen Konzepte. Zugleich werden über die beiden im Zentrum stehenden Erzählungen hinaus motivisch verwandte Texte der Autoren in den Blick genommen – was sich vor allem im Fall von Kafkas Bericht für eine Akademie mit der Opposition von „Freiheit“ und „Ausweg“ als erhellend erweist. Dabei wird deutlich, wie das Erzählschema der Mensch-Tier-Metamorphose in der chinesischen Tradition aufgrund ihrer spezifischen kosmologischen und gesellschaftlichen Vorstellungen grundsätzlich nicht als Degradationserzählung fungiert, wie es also einen Funktionswechsel ohne Wertungshierarchie bezeichnet. Pus Erzählung zeigt sich in dieser Perspektive als die Darstellung einer durch eine im Wortsinne traumhafte Märchenlösung glücklich umgangenen Entfremdung. Ihre Lektüre soll psychisch und sozial stabilisierend wirken; die anfangs so kritisch gesehenen gesellschaftlichen Verhältnisse werden letztlich affirmiert – was sich durch einen Blick auf die soziale Situation des Verfassers selbst überzeugend bestätigt. Dagegen steht Kafkas Protagonist als Held einer radikalen Verweigerung. In der Nachfolge der Textanalysen von Wagenbach und vor allem Gerhard Kurz zeigt die Verfasserin, dass seine Verwandlung in ein Tier zwar in der Außenansicht als Erniedrigung, in der Innenperspektive hingegen als passiver Widerstand und als gleichermaßen seelische wie soziale Emanzipation – selbst um den Preis des radikalen Außenseiterdaseins und schließlich der Vernichtung. Wo Pu seinen Helden ins allgemeine Happy-End führt, da fragt Kafka skeptisch weiter. Dabei wird auch die von ihm zunächst vorausgesetzte europäische Mensch-Tier-Hierarchie unterlaufen. Ist Gregor zu Beginn nur äußerlich ein Mensch gewesen, so bedeutet seine Vertierung seine eigentliche Humanisierung. Hier vor allem nähert sich Kafka, in interkultureller Perspektive gesehen, in dem Maße ‚chinesischen’ Vorstellungen an, in dem er sich von ‚europäischen’ entfernt; hier öffnen sich auch neue Blicke auf Kafkas Interesse an den chinesischen Traditionen. Von hier aus geht Frau Wangs Studie noch einmal einen Schritt weiter und vergleicht, ausgehend von der expliziten Traumstruktur von Pus Erzählung, Grundmuster kollektiver „Kulturträume“ in China und Europa, ein Vergleich, der auch ohne den spekulativen Rückgriff auf C.G. Jungs Modell eines „kollektiven Unbewussten“ hilfreich bliebe. In abermals pointierten Vergleichen macht sie deutlich, wie unterschiedlich Gesellschaft und Natur jeweils korreliert werden, wie die chinesischen Traditionen auf harmonischen Ausgleich und Einordnung zielen, wo in den europäischen Kampf und Autonomiepostulate vorherrschen. Hier eröffnet die Studie einer künftigen Forschung eine Möglichkeit, die Positionierung Kafkas zwischen derartigen Patterns sichtbar zu machen und seine Bemerkung, im Grunde sei er doch „ein Chinese“, beim Wort zu nehmen. Es ist ein Grund zur Freude, dass diese Untersuchung nun in gedruckter Form vorliegt und damit hoffentlich den Beitrag zur komparatistischen Forschungsdiskussion leisten kann, der ihrer Eigenständigkeit und der Bedeutung des Themas zukommt. Heinrich Detering

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