Das verschwundene Pfarrhaus in Salzhausen

Nach 40 Jahren Tätigkeit als kirchen- und gesellschaftskritischer Berliner Pfarrer packte mich als Großvater - je mehr ich meinen Enkeln von meiner Kindheit erzählte - die Lust, meine anregenden und reizvollen jungen Jahre im verschwundenen besonderen Landpfarrhaus der Lüneburger Heide aufzuschreiben. Auferstehen lasse ich die riesige Pfarrscheune neben dem stattlichen Pfarrhaus und riesigem Gartengrundstück in der Dorfmitte. Lebendig werden lasse ich ungewöhnliche Kinderspiele, die Erkundung der uralten Felsstein-Dorfkirche mit ihrem geheimnisvoll-mächtigen Turm und Ausguck in der Spitze. Ich hebe unsere Privilegien heraus: Freiheitsräume für Kreativität und Abenteuer zu erleben - ebenso auch die Härten und heute unvorstellbaren Pflichten, die für Pastorenkinder als selbstverständlich galten. Ich beschreibe ausführlich unser anziehendes, gemeinschaftliches, stilvolles Pfarrhaus-Familienleben. Ich mache an eigenen Begegnungen deutlich, wie nicht wenige Dörfler noch die NS-Jahre verherrlichten und die Eliten - unsere Eltern eingeschlossen - die Naziverbrechen verschwiegen bzw. verharmlosten. Ich protestiere gegen das profitsüchtige Zerstören nachhaltiger Werte in der Neuzeit am Beispiel des unersetzlichen Pfarrhauses von 1766. In Salzhausen haben sich mannigfaltige alte Sitten und Gebräuche erhalten. In der Nachkriegszeit wurden sie wahrscheinlich nach dem niederschmetternden Zusammenbruch Nazideutschlands besonders intensiv gepflegt, jedenfalls so, dass sie mich stark beeindruckt und sich sämtlichst in meinem Kindergedächtnis eingegraben haben, sodass ich jetzt 65 Jahre später noch lebendig über sie erzählen kann. Ich beschreibe, wie in den Sechzigern der Gottesdienstbesuch spürbar zurückging, was meinen Vater stark belastete, mich aber früh darauf einstellte: "Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Kirche ist zwar für einen Teil der Dorfbewohner weiterhin wichtig, aber für viele andere dreht sich ihr Leben um Sport, Mode oder neuen Medien." So komme ich auch auf das Auseinanderklaffen Heidepastorat 1950 und Großstadtpfarramt 2000 zu sprechen, das auch durch meine Person hindurchgeht, aber auch auf eine Verbindung: Denn seit frühester Salzhäuser Kindheit wuchs ich berührt und betroffen vom Nachkriegsflüchtlingselend auf. Und dann als Moabiter Pfarrer hat es sich dann in den Achtzigern wie von selbst ergeben, dass ich Asyl in der Kirche unterstützte und bis heute in der Flüchtlingshilfe tätig bin.

Michael Rannenberg wuchs mit drei Geschwistern in einem Landpfarrhaus in der Lüneburger Heide auf. Die Eltern waren beide engagierte Theolog*innen unterschiedlicher Richtung. Er lernte einen christlichen Glauben der Tat schätzen. Als Heranwachsender distanzierte er sich von der moralischen Enge und konservativen Theologie seines Vaters. Nach dem Abitur entschloss er sich, ein "moderner" Pastor zu werden und ein Christentum von unten und "Kirche für andere" zu praktizieren. Beim Studium der Theologie in Heidelberg, Tübingen und Göttingen politisierte er sich in der 68-er Bewegung und gewann die Erkenntnis, dass Jesus von Nazareth schon vor 2.000 Jahre im Kern seines Evangeliums das Fundament für die Aufstellung der Menschenrechte gelegt hat. 1970 vermählte er sich mit seiner Jugendliebe Dagmar Rannenberg. Nach seiner Ordination zu Pfarrer übernahm er 1974 eine Stelle als Gemeindepastor in Berlin-Moabit. Er arbeitete und lebte mit seiner Frau und zwei Kindern im großen Gemeindepfarrhaus. Im Mittelpunkt seiner Tätigkeit standen Kinder, Senioren, Obdachlose und Flüchtlinge. Wichtig war ihm, in der Gemeindepraxis zweierlei zu verbinden: Zum einen in aller Tätigkeit Jesu Auftrag zu befolgen, für Arme und Benachteiligte Partei zu ergreifen. Zum Beispiel veranstaltete er mit einem Team regelmäßig politische Nachtgebete im Horizont von Schöpfungsbewahrung, Gerechtigkeit und Frieden und kooperierte mit alternativen Stadtteilgruppen. Besonders engagierte er sich für eine Romafamilie, die 1995 aus dem Balkan nach Berlin geflüchtet war. Sie wurde 10 Jahre später ins Elend abgeschoben. Danach gelang ihnen erneut die Flucht nach Berlin. Die Mutter und vier Kinder waren unvorstellbar gesundheitsgeschädigt und traumatisiert. So begann seit 2015 ein nicht endender Behördenkampf um Aufenthalt, Wohnung, Arbeit und gesundheitliche Rehabilitation. Zum anderen hat er viel daran gesetzt, auf Reisen, Feiern, Ausflügen, Festen die Lebensfreude seiner Mitmenschen zu stärken; zusammen mit seinen Kolleg*innen bewältigte er den Kirchenumbau zur breiteren Nutzung, für Stadtteil-öffnung und Kultur in der Kirche. So wurde Raum für Ausstellungen, Konzerte, Kirchenkindertheater, Bürgerversammlungen und private Feiern geschaffen. Nach fast 4 Jahrzehnten Gemeindetätigkeit in Moabit ging er langsam in den Ruhestand. Inzwischen ist er nach Steglitz gezogen und weiter gesellschaftspolitisch und ehrenamtlich für Senior*innen in Moabit tätig. März 2023

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