Demokratische Sprache zwischen Tradition und Neuanfang

Sprache, Politik und Geschichte werden im Rahmen einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung zusammengeführt, um die Anfänge der politischen Gegenwartssprache vor dem historisch-politischen Hintergrund der Demokratiegründung im Parlamentarischen Rat zu beschreiben und zu interpretieren. Dies erfolgt einmal auf der kommunikativ-pragmatischen Ebene mit ihren politischen Dialogsorten, Textsorten und Sprechakttypen und sodann auf der lexikalisch-semantischen Ebene mit politischem Wortschatz und Wortgebrauch. Die empirische Erkundung des sprachgeschichtlichen Ortes der politischen Gegenwartssprache beruht auf der Grundlage eines breit angelegten Korpus, bestehend aus Quellen zur Verfassunggebung im Parlamentarischen Rat 1948/49 und Vergleichsmaterial aus der Paulskirche und der Weimarer Nationalversammlung sowie aus der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Die Arbeit bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Sprach-, Politik- und Geschichtswissenschaft, wobei jedoch die Schwerpunktsetzung durch das sprachgeschichtliche Erkenntnisinteresse erfolgt. Im kommunikativ-pragmatischen Teil der Untersuchung werden die den Grundrechte-Diskurs im Parlamentarischen Rat tragenden fünf Dialogsorten als Indikatoren demokratischer Sprache historisch-synchronisch und historisch-diachronisch beschrieben: Debatte und Diskussion, Aussprache, Beratung und interfraktionelle Besprechung repräsentieren die kommunikativ-pragmatische Semantik des nach der Nazi-Diktatur erneuerten 'Demokratie'-Begriffs in dialogischer Form. Die Untersuchung der diese Dialogsorten konstituierenden Normen macht in den diachronischen Längsschnitten Veränderungen der normativen Bestimmung dieser Sprachhandlungsmuster deutlich, doch hat es einen grundlegenden Wandel im Sinne einer ideologiesprachlichen Veränderung des Kommunikationsprofils nach 1945 nicht gegeben. Die politische Kommunikation früherer Epochen sowie demokratie- und parlamentarismustheoretische Ansätze berücksichtigend, muß hier vielmehr eine sprachgeschichtliche Tradition festgestellt werden. Der politische Wortschatz wird 1948/49 im Rahmen der erneuerten Demokratie idealnormativ auf parlamentarisch-demokratische Traditionen, dabei allerdings auf eine offene Semantik innerhalb eines nicht-kontroversen Rahmens verpflichtet. Die Wiederaufnahme dieses Wortschatzes wie auch die geforderte offene Semantik erweisen sich als Antwort auf die nationalsozialistische Sprache; der durch den Begriff der 'kämpferischen Demokratie' gezogene nicht-kontroverse Sektor hingegen erweist sich als sprachnormative Antwort auf die ideologiesprachliche semantische Beliebtheit der Weimarer Republik. Die historisch-diachronischen Studien zu Demokratie und Menschenwürde, zu Recht, Freiheit und Gleichheit können zeigen, daß die Wortgeschichten 1933 zwar nicht abbrachen, 1948/49 im Zuge der Erarbeitung des Grundrechte-Textes für das Grundgesetz jedoch tiefgreifende Veränderungen auf der Ebene der Sprachnormen erfahren, die es gestatten, hier von einem Neuanfang zu sprechen.

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