Die philosophische Notiz

Die Notiz ist von lakonischer Kürze. Wir schreiben im Moment auf, was immer uns einfällt oder auffällt. Alles scheint bewegt, und nichts ist für ewig fertig. Die Notiz setzt irgendwo ein und bricht ebenso schnell wieder ab, um den Stab an eine zukünftige Zeit abzugeben. Der Leser fremder Notizen erlebt Gedanken, die ihren Ausdruck und passende Worte entweder suchen oder soeben gefunden haben. Die spontanen, oft hastigen Aufschriebe können Strohfeuer darstellen, Geistesblitze oder Nüsse, in deren Schalen künftige Einsichten und Werke schlummern. Sie können aber auch ein bestehendes Werk in Frage stellen und durch Kritik vom Notizenrand her sabotieren. Autoren wie Paul Valéry oder Ludwig Wittgenstein pochen geradezu darauf, dass systematische Schriften fern der Luzidität der Notiz schnell zur Lüge werden. Ihnen gilt die Notiz als besonderer Ausdruck der Geistesgegenwart, die einengenden Denkzwängen entkommen will. Rainer Otte folgt den Entwicklungen der philosophischen Notiz von der Antike an mit einer doppelten Neugier. Wie lebt und wie denkt es sich mit dem notierenden Stift in Reichweite? Frappierend ist, wie leicht Autoren mit hingeworfenen Notizen in komplexe geistige Abenteuer und Denkstrukturen geraten. Dann wiederum stehen sie in ihren Notizen, ungeachtet ihrer eindrucksvollen Werke, immer wieder am bescheidenen (Neu-)Anfang. Nachgelassene Notizen bieten späteren Lesern Blicke durchs Schlüsselloch. Der Autor, der Mensch und seine Lebenswelt gewinnen darin schärfere, mitunter überraschende Konturen. Denn geschrieben wurden Notizen in der Regel im Schutz der Privatheit und selten mit Blick auf eine Leserschaft. Wer die Gedanken eines anderen verstehen will, kommt um eigenes Denken nicht herum. Vergleichbares gilt für Notizen: Die eigene Erfahrung, Philosophisches zu notieren, kann grundlegend helfen, ein tieferes Verständnis für die Notizen berühmter Philosophen zu erschließen. Rainer Otte will Autoren wie Heraklit und Hippokrates, Montaigne und Pascal, Leibniz, Lichtenberg und Kant, Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche, Valéry und Wittgenstein oder Benjamin, Camus und Canetti nicht allein als Meister der kleinen spontanen Form interpretieren. Es geht ihm darum, die Haltung des Notierens, deren Beweggründe und ihre Praxis zu verstehen. Die Notiz entpuppt sich als eine existenziell grundierte Denkform. Für den Autor dieses Buches wäre das schönste Ergebnis der Lektüre, wenn ihr Funke in die notierende Praxis des Lesers überspringt und wenn beide sich wechselseitig erhellen. Auch als E-Book (PDF): https://humanities.verlags-shop.de/

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