Einschätzung von Gefährdungsrisiken im Kontext möglicher Kindeswohlgefährdung

Der Begriff der Kindeswohlgefährdung bezeichnet keinen Sachverhalt, sondern ein rechtliches und normatives Konstrukt. Rechtlich geht der Begriff zurück auf Art 6 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz und § 1666 BGB. Hier markiert er den rechtlichen Rahmen für die Grenzen des Elternrechts bzw. für eine Eingriffsverpflichtung des Staates, wenn Eltern ihren Kindern erhebliche Schädigungen zufügen oder diese vor Schädigungen nicht schützen können oder wollen. Normativ ist der Begriff insofern, als es keine objektiven Schwellen gibt und geben kann, die eine gefährdende von einer nicht-gefährdenden Lebenssituation trennen, sondern dieser Zuschreibung immer ein Prozess gesellschaftlich legitimierter und normativ begründeter fachlicher Einschätzungen zugrunde liegt. Da der Begriff der 'Gefährdung' nicht mit dem Begriff der 'Schädigung' identisch ist, sondern vorrangig auf die Prognose zukünftiger schädigender Entwicklungen zielt, hat das Konstrukt der Kindeswohlgefährdung zwangsläufig einen hypothetischen Charakter. Das bedeutet, dass er - mit Ausnahme bei eher seltener vorkommenden eindeutigen Fällen - komplexe Aushandlungsprozesse zwischen Fachkräften und betroffenen Familienmitgliedern über die Bewertung von Situationen und Sachverhalten erforderlich macht. Ausgangspunkt für die Begründung einer Kindeswohlgefährdung ist die konkrete, durch belegte Sachverhalte beschriebene Lebenssituation eines Kindes oder Jugendlichen. Bezugspunkte zur Bewertung dieser Lebenssituationen sind dann einerseits die Erheblichkeit der drohenden Schädigung und die zu begründende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (Prognose). Eine solche Einschätzung begründet die Pflicht zur Hilfe. Erst wenn Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, solche Hilfen zur Abwendung der Gefährdung anzunehmen, ist ein Eingriff in die elterliche Sorge zulässig. Der Prozess der Gefährdungseinschätzung durch den ASD und die von ihm daraus abgeleiteten Handlungsschritte sind immer mit dem Risiko einer Fehleinschätzung verbunden. Für den ASD ist das 'Handeln mit Risiko' damit unausweichlicher Bestandteil seiner Arbeit im Kinderschutz. Zentrale Aspekte sozialpädagogischer Fachlichkeit im Umgang mit diesen Risiken sind einerseits das Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte (kollegiale Beratung) und andererseits die Einbeziehung der Perspektive der betroffenen Familienmitglieder (Eltern und Kinder / Jugendliche). Diese schon im § 36 SGB VIII definierten Basiselemente sozialpädagogischer Diagnose und Entscheidungsfindung werden in § 8a SGB VIII folgerichtig auch als zentrale Eckpunkte einer qualifizierten sozialpädagogischen Gefährdungs- und Risikoeinschätzung normiert. Indikatorengestützte Instrumente zur Erfassung von Gefährdungssituationen stellen eine wertvolle Unterstützung bei der gezielten Beobachtung und Beschreibung von einzuschätzenden Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen dar. Sie können helfen, Sachverhalte klarer zu erfassen und blinde Flecken zu vermeiden. Ihre Bedeutung liegt in der problemangemessenen Dokumentation von einschätzungsrelevanten Sachverhalten. Werden solche Instrumente - wie dies in der Praxis immer häufiger zu beobachten ist - jedoch als Messinstrumente (mit vorgegebenen Bewertungsskalen auf der Basis zu addierender Punktwerte) und darauf aufbauend als automatisierte Handlungsempfehlung (durch die Vorgabe von Standardprozessen bei Erreichen einer bestimmten Punktzahl) genutzt, laufen sie den komplexen professionellen sozialpädagogischen Anforderungen an eine Gefährdungseinschätzung zuwider. Ziel der Einschätzung von Gefährdungsrisiken ist es, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Dies sollte immer zuerst dadurch geschehen, dass den Eltern

Schone, Reinhold, Prof. Dr. phil., Dipl.-Päd., Jhrg. 1953; Professor (i. R.) für das Lehrgebiet "Organisation und Management in der Sozialen Arbeit", ehemals Fachhochschule Münster, Fachbereich Sozialwesen; reinhold.schone@t-online.de

Weitere Produkte vom selben Autor