Flucht in den Norden - Roman einer Liebe

Das Schiff hielt schon seit einigen Minuten. Den schmalen Landungssteg hinunter drängten sich die Leute; unten, auf dem Kai, wurden sie in Empfang genommen mit viel Hallo, Kuß und Umarmung. Die Ankommenden vermischten sich schnell mit denen, die gewartet hatten, man fand sich unter Winken und Geschrei, es herrschte Stimmengewirr und großes Gelächter, auch Freudentränen wurden vergossen, denn mancher war eine lange Zeit in fernen Landen gewesen, nun hatte die nordische Heimat ihn wieder. Zu dem allgemeinen, beinahe rauschhaften Vergnügen, das die Ankunft eines Dampfers immer hervorruft, kam die Freude an einem strahlenden Sommertag. Himmel und Wasser waren gleich blau, zum Entzücken schön der Flug der Möwen, auf deren bewegtem Gefieder das Licht schimmernd blendete. Das junge Mädchen, das Johanna heißt, zögerte noch, das Schiff zu verlassen. Sie stand auf dem oberen Deck und suchte mit den Augen in der Menge drunten nach ihrer Freundin, ohne sie zu finden. Wahrscheinlich ist Karin überhaupt nicht gekommen, dachte sie, und es enttäuschte sie so sehr, daß sie keine Lust mehr hatte, sich von der Stelle zu rühren. Aber da entdeckte sie Karin zwischen den Winkenden. Ruhig, ernst und anmutig stand sie inmitten des schwatzenden Gedränges, vielleicht hatte sie ihrerseits Johanna schon seit längerem unter den Passagieren auf dem Deck herausgefunden, aber jetzt erst, da der Blick Johannas sie traf, lächelte sie. Dieses sanfte und ernste Lächeln war Johanna sehr wohl vertraut, sie erkannte es aus der Ferne, es wurde ihr gut und gerührt davon ums Herz. Sie ging rasch über das Deck, die Treppe hinunter zum Zwischendeck, gab bei dem Beamten, der an der Sperre stand, ihr Billett ab, lief den ziemlich steilen Steg, der zum Lande führte, so schnell hinunter, daß sie stolperte und fast gefallen wäre. Sie rannte wie ein Junge, der endlich, endlich aus der Schule darf. Ihr Haar, das ihr jetzt in die Stirn wehte, war geschnitten wie das Haar eines Jungen. Man hätte sie, aus einiger Entfernung, für einen Gymnasiasten halten können. Unter dem kurzen Leinenrock hatte sie nackte Knie. Kolossal froh war sie, aus diesem Schiff herauszukommen. Und es war ja nicht nur das Schiff, was sie hinter sich ließ, als sie da so enthusiastisch den Steg hinunterstolperte. In die heftige Freude mischte sich ein wenig Angst, was begann nun? Karin fing die Laufende auf. "Da bist du!" sagte sie mit ihrer etwas belegten, sanften und tiefen Stimme. Johanna schlang beide Arme um Karin und küßte sie ...

Klaus Mann lebte von 1906 bis 1949 und war ein deutscher Schriftsteller.

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