Giacomo Leopardi - Dichtung als inszenierte Selbsttäuschung in der Krise des Bewusstseins

Leopardi setzt sich nicht nur mit den großen Illusionen im kollektiven Bewusstsein der Menschheit von den Uranfängen her auseinander, sondern auch autoreflexiv mit der Standpunktsuche als Dichter und Philosoph. Diese vollzieht sich in immer neuen Inszenierungen, in denen Täuschung und Selbsttäuschung die Unvollkommenheit, den Mangel kaschieren. Die als Illusionen enttarnten einstigen Menschheitsideale überführt Leopardi in den Bereich des Ästhetischen, um mit seiner Sprache des Indefiniten ihre Trugbildhaftigkeit zu zelebrieren. Der Vorstellung der Schattenhaftigkeit des Menschen, die zu Nietzsche und in die Moderne führt, entsprechen der Traum und der Wachtraum. Diese Nachtbereiche der Seele treten in Konkurrenz zur Realität und bilden Reservoire für die Imagination, in der sich vage neue Menschheitsentwürfe, z.B. in Richtung auf die Exploration des Mondes und die künstliche Intelligenz, erahnen lassen.

Cornelia Klettke ist Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der französischen und italienischen Literatur von Dante bis zur Gegenwart. Sebastian Neumeister ist Professor em. für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin und langjähriger Präsident der Deutschen Leopardi-Gesellschaft sowie Herausgeber der von ihm gegründeten Zeitschrift 'Ginestra'.