Gotische Kunst und städtische Lebensform

So eindrücklich sich die Anfänge der Gotik in der Île-de-France lokalisieren, so unbestimmt bleiben die Gründe hierfür. Es gilt daher sich zu vergegenwärtigen, wie der als Wiege der Gotik geltende Neubau in Saint-Denis sich in eine Strategie einfügte, den Einfluss der Abtei auf das französische Königtum zu sichern und ihre Attraktivität gegenüber der aufkommenden Konkurrenz des benachbarten Paris zu behaupten. Die Kongruenz der gotischen Anfänge in Saint-Denis und in den gleichzeitig florierenden Städten der Île-de-France macht anschaulich, welchen Erfordernissen diese neue Baukunst entgegenkam, und die spezifischen Parameter der neuen kommunalen Verfassung lassen erkennen, wie sehr die gotische Architektur eine äquivalente Raumauffassung ausbildete. Mit der zunehmenden Marienverehrung trägt die Gotik zudem substantiell einem gerade in den Städten sich wandelnden Frauenbild Rechnung. Nicht weniger beziehungsreich gehen Universität und Scholastik als genuin urbane Denkmodelle mit der Ausdifferenzierung der neuen Welt der Kathedralen einher. Je mehr sich aus diesem Blickwinkel deren Sitz im Leben bestimmen lässt, desto einsichtiger wird auch die umgehende Rezeption der Gotik andernorts und nachvollziehbar wird, welche Strahlkraft dem Bild der gotischen Kathedrale bis heute innewohnt.

Reinhart Strecke, Studium der Kunstgeschichte, Romanistik und Geschichte, zuletzt Archivar am Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Weitere Veröffentlichungen im Lukas-Verlag: Romanische Kunst und epische Lebensform. Das Weltgericht von Sainte-Foy in Conques-en-Rouergue (2002); Schinkel oder Die Ökonomie des Ästhetischen (2017).

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