Ich bin Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwester

«Ich hatte viel zu viel für mich behalten und mit diesem Schweigen das Grauen innerhalb dieser Mauern wachsen lassen. Ich hatte nicht reden wollen über Angst, Schuldgefühle, Scham, Minderwertigkeitskomplexe, Selbstwertprobleme. Jetzt redete ich. Und die Mauern stürzten ein, Licht und Wärme bahnten sich ihren Weg in die vielen dunklen Räume. Ich gewann an Kraft, Energie und Mut. Ich bin, wenn ich es mir genau überlege, ein sehr reich beschenkter Mensch. All die vergossenen Tränen haben meine Wüste in eine Oase verwandelt. Sie haben Heilung gebracht und Klärung. Ich habe in meinem Leben so viele liebenswerte, wertvolle und mutige Menschen treffen dürfen; dank ihrer Liebe und Unterstützung konnte ich meinen Weg gehen, ohne dass ich auf ihm zerbrochen bin.» Nourig Apfeld ist sieben Jahre alt, als sie mit ihrer Familie aus Syrien nach Deutschland kommt. Schon bald rebelliert ihre Schwester Waffa gegen die strengen Regeln der muslimischen Eltern. Diesen Freiheitsdrang bezahlt sie nach jahrelangen Auseinandersetzungen mit ihrem Leben und wird 1993 von der eigenen Familie ermordet. Nourig wird gezwungen, den Mord mit anzusehen, und flieht - aus Angst, dass ihr das gleiche Schicksal droht. Mit starkem Willen und unerschütterlicher Zuversicht kämpft Nourig für einen Neuanfang und studiert Medizin. Doch nach vielen Jahren wird sie von ihrer Vergangenheit eingeholt; Polizeibeamte fangen Nourig auf dem Weg zur Arbeit ab und nötigen sie zu einer Aussage. Damit der deutsche Staat den Prozess gegen die Mörder ihrer Schwester eröffnen kann, wird ihr ein neues Leben im Rahmen des Zeugenschutzprogramms zugesagt, doch nach ihrer Aussage und der Verurteilung ihres Vaters wird das Versprechen einer neuen Identität nicht eingelöst. Wieder muss Nourig die Rache ihrer Familie fürchten.

Nourig Apfeld wurde 1972 in Syrien geboren und kam 1979 nach Deutschland. Sie lebt heute in einer deutschen Großstadt und studiert Psychologie.