Im Erlebensfall

Kulturelles Gedächtnis und digitale Revolution, das Nachleben mythischer Verstrickungen in Kunst und Zivilisation, menschliche Endlichkeit und Konsumgesellschaft, Europa und das Finanzkapital, und immer wieder: die Grenze als kritische Größe des guten Lebens - das sind Themen von Adolf Muschgs großartigen Vorträgen und Essays, die aus Anlass seines achtzigsten Geburtstages in diesem Band versammelt sind, der mit einer luziden Lektüre des Gemäldes 'Die Spinnerinnen' von Velázquez einsetzt. Das Gemälde thematisiert den Anfang der Webkunst - auch der Verfertigung von Texten. Der rote Faden, der dabei entsteht, führt allerdings nicht aus dem Labyrinth heraus, sondern auf rechte Art hinein. Er lehrt erkennen, dass die Ränder menschlicher Existenz und ihr Zentrum nicht zweierlei sind. Worauf es ankommt, ist die Erfahrung des Wegs. Diese Essays, die auch eine persönliche Geschichte erzählen, zeigen Muschg als einen Homme de lettres und Intellektuellen europäischen Formats, der Europa als unerledigtes Geschäft betrachtet. Auf der Suche nach tragfähigen Abbildungen menschlicher Realität stößt Muschg immer wieder auf die Kunst: Zu seinen Patronen gehört, nach Goethe, Jacob Burckhardt, der die Geschichte als fortgesetzten Versuch sah, die in jeder menschlichen Gesellschaft angelegten Grundwidersprüche nach dem Vorbild der Kunst zu zivilisieren. Das heißt: Mehrdeutigkeit gelten und walten zu lassen, statt sie, wie das Computermodell, zu minimieren oder, wie das politische Diktat, zu unterdrücken.

Adolf Muschg, geboren 1934, war Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH in Zürich und von 2003 - 2006 Präsident der Akademie der Künste Berlin. Sein umfangreiches Werk, darunter die Romane 'Im Sommer des Hasen' (1965), 'Albissers Grund' (1977), 'Das Licht und der Schlüssel' (1984), 'Der Rote Ritter'(1993), 'Sutters Glück' (2004), 'Eikan, du bist spät' (2005) und 'Kinderhochzeit' (2008) wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem 'Hermann-Hesse-Preis', dem 'Georg-Büchner-Preis' und dem 'Grimmelshausen-Preis'. Unter dem Titel 'Wenn es ein Glück ist' erschienen 2008 Gesammelte Erzählungen Muschgs. Seine essayistischen Werke beschäftigen sich u.a. mit 'Literatur als Therapie?', Gottfried Keller, Goethe und Japan.

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