Jahrbuch des Phonogrammarchivs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Der vorliegende erste Band des Jahrbuchs des Phonogrammarchivs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften enthält die Referate des internationalen Symposiums zum Thema „Reflexionen über Arbeitsfelder, Kooperationen und Perspektiven“, das anlässlich des 110-jährigen Bestehens im Jahr 2009 stattfand, sowie einen gerafften Jahresbericht der Institution. Die Tagungsbeiträge gliedern sich in drei Abschnitte, denen Grußadressen von Kevin Bradley (International Association of Sound and Audiovisual Archives), Rainer Hubert (Medienarchive Austria) und Detlef Altenburg (Gesellschaft für Musikforschung) sowie eine Keynote Lecture von Anthony Seeger (UCLA) vorangestellt sind. Ausgehend von einem analytischen Blick in die Vergangenheit beleuchtet Seeger darin die besondere Bedeutung audiovisueller Archive im 21. Jahrhundert und betont den hohen Wert von Tondokumenten als Quelle für das Verstehen von Kulturen im Kontext einer globalisierten Welt. Auf der Grundlage seiner eigenen Feldforschung spannt Seeger den Bogen von Fragen zur Wechselwirkung zwischen Ausführenden, Forschern und Archivaren bis zu heiklen Themen wie Copyright und Ethik im Umgang mit audiovisuellen Dokumenten. Den ersten Abschnitt („Methoden und Ziele der Feldforschung“) eröffnet ein Beitrag von Ingeborg Geyer zum Mehrwert „lebensfrischer Magnetophonaufnahmen“ für die dialektologische Forschung, speziell für die Erstellung des Wörterbuchs der bairischen Mundarten in Österreich. Anhand der im Phonogrammarchiv verwahrten „Sammlung Kranzmayer-Hornung“ aus den 1950er Jahren betont sie deren Bedeutung für die Validierung und Analyse linguistischer Phänomene, aber auch für kulturwissenschaftliche Fragen. Über die „Begegnung der Kulturen“ reflektiert Gerhard Kubik, wenn er an seine ersten Feldforschungsreisen in den frühen 1960er Jahren zurückdenkt und versucht, den Blick von heute seinen Überlegungen und Zielen von damals gegenüber zu stellen. Ausgehend von den europäischen Erfahrungen reicht Kubiks Exkurs vom Aufbruch nach Afrika, wohin ihn die meisten seiner Reisen führten, bis zu einer neuen Sicht und Darstellungsform kultureller Profile. Rudolf M. Brandls Beitrag „Zur Quellenkritik der medialen Überlieferung am Paradigma der Musikaufzeichnung“ stellt eine methodische Abhandlung über den Wert von AV-Quellen im Zusammenhang mit der Aufnahme von Oraltraditionen dar, in der grundsätzlich zwischen physikalischem Träger und Inhalt unterschieden wird. Brandl sieht die Musik als „kommunikative Handlung“ und leitet aus diesem Ansatz ab, dass eine mediale Dokumentation nie objektiv sein kann – ein Fazit, das auch bei der Archivierung eines AV-Dokumentes mitgedacht werden muss. Im zweiten Themenblock („Technische Herausforderungen in Feld und Archiv“) erläutert zunächst Giorgio Adamo seine Erkenntnisse aus AV-Aufnahmen im Feld, indem er beschreibt, wie unterschiedlich auditive und visuelle Informationen während einer Videoaufzeichnung wahrgenommen und aufgezeichnet werden können. Letztlich kommt er zum Schluss, dass eine reine Tonaufnahme zwar „objektiver“ als jede Videoaufnahme sei, aber je nach Kontext und Forschungsziel die adäquate Art der Aufnahme und methodische Konstellation neu entschieden werden müssten. Victor Denisov und Tjeerd de Graaf gehen in ihrem Artikel auf die Rolle von Archiven für die Bewahrung, Dokumentation und Verfügbarmachung von Beständen zu bedrohten Sprachen in Russland ein. Die beiden Autoren referieren über ihre langjährigen Erfahrungen mit Aufnahmen gefährdeter Sprachen (insbesondere finno-ugrischer Minoritätensprachen wie Chanti und Udmurt) in russischen Archiven. Sowohl Jacek Jackowski als auch Avraham Nahmias berichten von ihren Erkenntnissen aus einer Schulung im Phonogrammarchiv, das sich schon immer intensiv mit Fragen der Konservierung, Restaurierung und Übertragung von Tonträgern auseinandergesetzt, diese Expertise weltweit weitergegeben und dabei internationale Reputation erlangt hat. Die daraus resultierenden Kooperationen – in einem Fall mit Warschau, im anderen mit Jerusalem – werden neben einer Beschreibung der betreffenden Institutionen ausführlich im Zusammenhang mit dem erfolgten Wissenstransfer besprochen. Das abschließende Kapitel („Die Rolle von Schallarchiven für die Sprach- und Musikwissenschaft“) wird von einem Referat zu „Sprache, Dislozierung und Identität bei Özbeken Nordostafghanistans“ eingeleitet, in dem Ingeborg Baldauf die kulturellen, politischen und sprachlichen Entwicklungen von 1978 bis 2008 nachzeichnet und auf die Bedeutung von linguistischen Tonaufnahmen als Zeitdokumente für kulturwissenschaftliche Erkenntnisse verweist. Am Beispiel von mündlicher Geschichtstradition und Tracht zeigt Baldauf, dass Studien lokaler Idiome mit einer Untersuchung der Migrationsgeschichte sowie paralleler – sprachgebundener und nichtsprachlicher – identitätsbildender Merkmale einhergehen müssen. Ein weiterer linguistischer Beitrag stammt von John Rennison, der die Computer-unterstützte Auswertung von audiovisuellem Datenmaterial aus linguistischen Feldforschungen zum Thema macht. Er gibt in seinem Text praktische Tipps über persönlich getestete Computerprogramme zur Auswertung von Sprachkorpora weiter, die mit technischer Unterstützung durch das Phonogrammarchiv zustande kamen und dort langzeitarchiviert sind. Neue Horizonte öffnet Detlef Altenburg schließlich mit der berechtigten Frage nach der Beziehung zwischen Phonogrammarchiven und der Musikwissenschaft. Die noch flüchtige gegenseitige Wahrnehmung der unterschiedlichen Teilgebiete des Faches sieht er in Zukunft schwinden, zumal die klangliche Realität immer mehr in den Vordergrund tritt und die Beschäftigung mit Tonaufnahmen – folglich auch die Bedeutung von Schallarchiven für das kollektive Gedächtnis der Kulturen – zunehmen wird. Die Voraussetzung dafür bildet allerdings die weltweite Verfügbarkeit über das Internet.