Literarischer Narzissmus

Trotz weiter medialer Verbreitung ist der Begriff 'Narzissmus' nur auf den ersten Blick literaturwissenschaftlich erforscht. Die Literatur- und Motivgeschichte hat sich zwar ausführlich mit dem Mythos Narziss beschäftigt, und gleichermaßen gängig ist der psychoanalytische Deutungsansatz. Was aber bislang fehlt, ist eine theoretische sowie systematische Betrachtungsweise des literarischen Systems als 'narzisstisch'. Der medial geprägten Gegenwartskultur wird oftmals der Hang zur narzisstischen Ichbezogenheit unterstellt. Diana Tappen-Scheuermann arbeitet jedoch heraus, dass sich der literarische Narzissmus als Versuch, die wechselseitige Fremdwahrnehmung von Autor und Leser bewusst zu gestalten, bereits in der romantischen Lyrik offenbart. Die Autorin entwickelt eine Theorie der reziproken Spiegelung, die auf vielfältige Weise Autor, Text und Leser verbindet. Demgemäß wird das Changieren zwischen Selbstfiktionalisierung und Selbstreflexion als epochen- und gattungsübergreifender Bestandteil literarischer Kommunikation erkennbar und verdeutlicht. Das Textkorpus umfasst dabei so unterschiedliche Werke englischsprachiger Literatur wie William Wordsworths The Prelude, Oscar Wildes The Importance of Being Earnest sowie Teile des Prosawerks der Gegenwartsautorin Siri Hustvedt.