Wem gehört die Heimat?

1. Die Zeichen von Krieg, Vertreibung und Flucht, die heute unsere Nachrich­ ten aus Osteuropa beherrschen, verleihen dem Thema dieses Bandes eine grauenhafte Aktualität. Das halbe Jahrhundert gepanzerter Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg hatte fast vergessen lassen, welche Gewalt die unter­ drückten Konflikte um Lebensformen und Territorien behalten; wie erbittert sie als Kampf um ethnische oder nationale Identität erlebt und geführt wer­ den. Es ist wie ein Blick in die brutale Vorgeschichte des Heimatphänomens, dessen materielle Dynamik durch den hegemonialen Fortschritt von Industrie und Weltmarkt - für unsere Weltgegend jedenfalls - gebändigt schien. Der säkulare Modemisierungsprozeß zerstört ja mit dem Zwang zu Indu­ strialisierung und Weltmarktanpassung unaufhaltsam und unumkehrbar die traditionalen Grundlagen von regionalen Kulturen, von Gemeinschaftlichkeit und kollektiver Identität; wir sahen und sehen fortgesetzt diesen lebensweltli­ chen Strukturwandel, in dem das Materiale der Heimat untergeht. Den ge­ schichtlichen Individualitäten der Landschaft, der agrarischen, handwerkli­ chen und auch industriellen Arbeitsformen, der Bauformen, der familialen Muster, schließlich der Mentalitäten und Sprachformen wird-im Zuge einer Subsumption unter das Allgemeine des globalen Verwertungsprozesses-ihr Eigensinn genommen. Aber ist es nicht so, daß gerade an diesem Eigenen - Sehnsucht wie Haß stiftend - in unserer Kindheit sich eine psychosoziale Disposition bildete, die unser Wesen durchprägt, in die wir immer schon ver­ setzt sind und die uns nur im nachhinein - in der Bewußtseinsaufgabe, unser Erleben zu reflektieren - zugänglich wird. So ist Heimat das dem Einzelnen zugefügte Eigene, dem er sich affirmativ oder kritisch, getrieben odersublimierend widmen oder entziehen kann.