Zur Theorie und Praxis der Gegenübertragung

Die Revision der Theorie der Gegenübertragung in den letzten Jahrzehnten ist ein praktisch besonders bedeutungsvoller Teil der tiefgreifenden Wandlungen der Psychoanalyse. Balints Zwei-Personen-Psychologie und die intersubjektive Auffassung der psychoanalytischen Therapie macht es unausweichlich, in Übertragung und Gegenübertragung ein Beziehungssystem zu sehen, »wobei der eine Faktor die Funktion des anderen ist« (Loch, 1965, S. 15). Zwar hatte auch Freud die Gegenübertragung als Einfluß des Patienten auf das unbewußte Fühlen des Analytikers verstanden. Aber er glaubte aus praktischen und wissenschaftlichen Gründen, daß die Gegenübertragung auf ein Minimum reduziert werden sollte, und er sah nicht zuletzt die Aufgabe der Lehranalyse darin, den analytischen Spiegel von den blinden Flecken zu reinigen. Somit erhielt die Gegenübertragung insgesamt eine negative Bewertung, weit über die selbstverständliche Auffassung hinaus, daß sich der Analytiker von den Einschränkungen seiner eigenen Komplexe befreien sollte. Die Gegenübertragung wurde zum Inbegriff für die subjektive, therapeutisch bedenkliche und wissenschaftlich unseriöse Beeinflussung des Patienten durch den Analytiker. Da gefühlshafte Reaktionen des Analytikers auf den Patienten zugleich unvermeidlich sind, führte die negative Bewertung der Gegenübertragung zu einer Art von Verleugnung, die Ferenczi (1918) als Widerstand des Analytikers gegen seine Gegenübertragung beschrieben hat. Daß dieser Widerstand sowohl die Selbst- als auch die Fremdwahrnehmung einschränkt, liegt auf der Hand. Bereits Ferenczi beschrieb, wie dadurch die Fähigkeit des Analytikers, seine Gegenübertragung innerlich zu bewältigen, eingeschränkt wird. Erst dreißig Jahre später hat P. Heimann (1950) die diagnostische und therapeutische Bedeutung der Gegenübertragung hervorgehoben. Nun kam es zu einem Umschlag ins andere Extrem: die Gegenübertragung wurde zum A und O des Erkenntnisprozesses im Analytiker erklärt. In Freuds Spiegelanalogie der psychoanalytischen Erkenntnis sollte idealiter keine Gegenübertragung mehr wirksam sein. Nun wurde die Gegenübertragung zum umfassenden empathischen Wahrnehmungsorgan. Die Lehranalyse sollte nun der Reinigung des Spiegels mit veränderter Zielsetzung dienen: je vollständiger der Analytiker seine eigenen Gefühle als projektive Schöpfung des Patienten zu erkennen vermag, desto geringer scheinen seine subjektiven Zutaten zu sein. Die entstandenen Polarisierungen - hier Freuds gegenübertragungsfreier Spiegel, dort die Fiktion der Gegenübertragung als vollkommenes Erkenntnisorgan - können überwunden werden. Hierbei geht es um weit mehr als um einen Kompromiß im Sinne des goldenen Mittelweges. Die Intersubjektivität des therapeutischen Prozesses prägt und beeinflußt sowohl die Phänomene der Übertragung wie die der Gegenübertragung. In Anlehnung an Habermas und Sandler legen wir ein dramaturgisches Modell des therapeutischen Austausches vor. In der Reflexion über die Wiederinszenierung (re-enactment) und die Antwortbereitschaft (role-responsiveness) des Analytikers vollziehen sich jene Klärungen, die gemeinhin als Einsichten bezeichnet werden. Hierbei integriert auch der Analytiker, was er dem Patienten gegenüber in einem bestimmten Augenblick fühlt und denkt, wobei sich seine Reflexion auf viele Aspekte eines fortlaufenden Prozesses bezieht. Wie weit der Analytiker den Patienten an seinen Reflexionen über die Übertragung und insbesondere über die Gegenübertragung teilnehmen läßt, ist eine Frage, für die es keine verbindliche allgemeine Antwort geben kann. Daß auch der Analytiker von den sexuellen und aggressiven Phantasien seiner Patienten berührt und irritiert wird, ist freilich unstrittig. Deshalb schlagen wir vor, diese Wahrheit von Anfang an in einem allgemeinen Sinn anzuerkennen, aber hierbei die professionelle Aufgabe, nämlich die innere Verarbeitung der Gegenübertragung, nachdrücklich zu betonen. Darin und nicht in Selbstbekenntnissen sehen wir die Aufgabe des Analytikers, an der die Begriffserweiterung nichts geändert hat. Im Gegenteil: die Verantwortung für seine persönliche und theoretische Einstellung ist in den letzten Jahrzehnten noch größer geworden. Dies gilt besonders bei der Entscheidung, dem Patienten eine spezielle affektive Gegenübertragungsreaktion mitzuteilen. Auf der Grundlage der Zwei-Personen-Psychologie ist die psychoanalytische Methode unseres Erachtens therapeutisch fruchtbarer geworden. Die Anerkennung gegenseitiger Beeinflussung hat dem revolutionären wissenschaftlichen Paradigma Freuds in unseren Tagen aufs neue eine Bedeutung verliehen, die auch die Praxis verändert hat. Die ganzheitliche Auffassung der Gegenübertragung markierte einen polarisierenden Entwicklungsschritt, der hinter uns liegt und durch eine genuin intersubjektive Auffassung ersetzt wird. Jetzt und in der Zukunft geht es um eine differenzierte Betrachtung der Einstellung des Analytikers dem Patienten gegenüber, die von affektiven und kognitiven Prozessen ebenso bestimmt wird wie von der Theorie, die das therapeutische Handeln des Analytikers einfärbt.

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