ein tag auf dieser erde

Von der vertrauten sprachlichen Sicherheit und Lakonie abgesehen, wirkt dieser Gedichtband Kunzes im Vergleich mit seinen früheren Bänden völlig neuartig: Ob im Erleben von heimatlicher oder exotischer Welt, von Natur und Kunst, von Geschichte und politischer Gegenwart - im Licht der poetischen Bilder, zu denen Kunze gefunden hat, gewinnt das einfachste Wort an neuer Aussagekraft, und die Nähte zwischen Bild und Begriff, Wahrnehmung und Diskurs, Ernst und Heiterkeit sind unsichtbar geworden. Diese Gedichte sind noch intensiver und sinnlicher in der Wahrnehmung und zugleich stärker in der Distanz, die nach Simone Weil die Seele des Schönen ist. Es gibt in keinem der bisherigen Bände so viele Verse, an deren Ende »Schiffe ankern«, die über den Rand der Welt hinausführen. Der Zyklus ein tag auf dieser erde, der dem Band den Namen gibt, dürfte das Äußerste an Genauigkeit in der Beobachtung von Landschaft, Tieren und Pflanzen und an meditativer Versenkung sein. Während Reiner Kunze seinen Gedichtband für Kinder Wohin der Schlaf sich schlafen legt (1991), das Tagebuch eines Jahres Am Sonnenhang (1993) oder den Notizen- und Bildband Steine und Lieder (1996) schrieb, sind in ihm die Gedichte gereift, deren Kennzeichen das absolut autonome Bild ist. Thematisch reichen die Gedichte vom »ortfühligen« Schweigen in Kunzes Haus an der Donau bis zum Denkmal der Aufstände in Posen, von der geschleiften deutschen Mauer bis zu Vladimir Horowitz, der in Wien zum letzten Mal Mozart spielt, und vom Krankenbett des Tierbildhauers Heinz Theuerjahr bis zum Vanitasbild, das mit dem Mond, dem »beinernen Schädel«, aus der Nacht tritt.

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