Ein Deck-Schicksal oder Der Mann mit den zwei Schicksalen

In einer früheren Arbeit hatte die Autorin gezeigt, daß es für Überlebende der Shoah sicherer sein kann, die eigene Holocaust-Erfahrung nicht direkt auszusprechen, sondern dabei die Worte anderer zu benutzen. In diesem Text befaßt sie sich mit einem spiegelbildlichen Vorgang, bei dem das symbolische Universum der Shoah benutzt wurde, um eine eigene defizitäre Lebenserfahrung durch ein entliehenes »Deck-Schicksal« auszudrücken. 1995 veröffentlichte der Schweizer Bruno Doesseker unter dem Namen Binjamin Wilkomirski einen Bericht über seine Kindheit in den NS-Vernichtungslagern. Das Buch fand international große Resonanz, bis es einige Jahre später als Fälschung entlarvt wurde, was große Empörung auslöste. Daß der vorgebliche Holocaust-Überlebende sich mit diesem Familienroman eine neue Identität als willkommenes Mitglied der jüdischen Gemeinschaft erschaffte, sieht die Autorin als Rettungsversuch: Doesseker, der vor seiner Adoption einen Teil seiner Kindheit in Heimen und Pflegefamilien verbracht hatte, schrieb den Text in einer psychischen Krise. In der überschwenglichen Reaktion der Öffentlichkeit auf das Buch erkennt die Autorin den Beitrag der Getäuschten zur Hochstapelei: Die idealisierende Verkennung des Betrügers als reines und unschuldiges Opfer schien es ihnen zu ermöglichen, etwas Versäumtes nachzuholen – den Opfern zuzuhören – und sich so von eigenen Schuldgefühlen zu entlasten.

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