Sittenloses Landvolk

Die 17-jährige Leopoldine leistete keinen Widerstand, als ihr 52-jähriger Vater sie in jener Nacht erstmals "beanspruchte". Fünf Jahre lang waren die beiden dann intim und machten sich fortgesetzt der "Blutschande" schuldig. Das Mädchen entschuldigte sich später damit, dass sie durch den Geschlechtsverkehr mit dem Vater, der Witwer war, sich und ihren Geschwistern eine Stiefmutter ersparen wollte. "Blutschande" war in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Delikt, mit dem sich die Justiz nicht selten zu beschäftigen hatte. Im Kampf gegen die Unsittlichkeit gab es vor hundert Jahren allgemein viel zu tun. Homosexuelle mussten ihres "widernatürlichen" Treibens wegen verfolgt und bestraft werden. Der Klerus und die Obrigkeit befanden sich im erbitterten Kampf gegen die "Unzucht", die in den Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges angeblich bis in das letzte Bauerndorf vordrang. Obwohl die Kirchen an den Sonntagen damals noch rappelvoll waren und auch lüsterne Kerle an die Sünde und eine mögliche Strafe im Jenseits glaubten, fielen in jeder Woche zwischen Vorarlberg und dem Burgenland nicht wenige Mädchen und Frauen einer Vergewaltigung ("Notzucht") zum Opfer. Der sittliche Verfall wurde gerne den "gottlosen" Sozialdemokraten angekreidet, die ihrerseits nicht müde wurden, die Heuchelei und praktizierte Doppelmoral der bürgerlichen und kirchlichen Sittenwächter durch das Aufdecken diverser Sexskandale zu enthüllen. Die etwas mehr als 150 Zeitungsberichte aus den zwanziger Jahren, die für dieses Buch recherchiert und ausgewählt wurden, vermitteln ein erhellendes Sittenbild jenes turbulenten Jahrzehnts, in dem die Geschlechter dem penetranten Beharren auf die alten Tugendvorschriften ausgesetzt waren und gleichzeitig aber couragiert in moralische Tabuzonen vordrangen. Neben so manchen landesweit Aufmerksamkeit erregenden "Unzuchts-Affären" finden sich in den Tatsachenberichten aus jener Zeit zahlreiche Vorfälle aus der Welt der erbeuteten und somit sträflichen Sexualität. Aber auch kuriose Ereignisse aus dem Bereich des sinnlichen Begehrens ermöglichen den profunden Blick auf das zügellose Sehnen von Männern und Frauen, Burschen und Mädchen, das mit der allgemeinen Wertordnung vor einem Jahrhundert nicht verträglich war.

Peter Rohregger, Jahrgang 1950, ist ein freischaffender Tiroler Historiker. Ursprünglich kaufmännisch tätig, studierte er im zweiten Bildungsweg Geschichte und Politikwissenschaft. Das Studium an der Universität Innsbruck schloss Peter Rohregger mit dem Magister der Philosophie ab. In seinen bisher erschienenen Büchern beschäftigte er sich mit den Tollheiten und Merkwürdigkeiten des Glaubens, mit den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf lokaler Ebene, mit jenem "Bruderkrieg", der im Jahr 1866 Österreich von Deutschland trennte, mit Beziehungsmorden in politisch autoritärer Zeit - sowie mit zahlreichen weiteren geschichtlichen Themen, deren unterhaltsam-informative Aufbereitung das historische Geschehen und den jeweiligen "Zeitgeist" verständlicher macht.

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