Der kleine Gast

Im ersten Band waren sie noch Brautleute, die beiden Lindenberg-Töchter und ihre Verlobten. Jetzt, etwa sechs Jahre später, sind sie bereits gestandene Eheleute mit Nachwuchs - allerdings auch schon mit den ersten Rissen in ihren Beziehungen. Während der eine Ehemann sich schon aus dem Staube macht, hält Fritz Eisner noch die Stellung, obwohl auch er bereits die Sackgasse in seiner Verbindung mit Annchen erkennt, die in einer anderen Welt lebt als er. Die kleine Tochter Dorchen, gerade mal acht Monate alt und häufig Mittelpunkt des häuslichen Lebens, spielt gegen Ende des Romans die tragische Rolle. Unser Schriftsteller geht ganz im gehobenen Bildungsbürgertum auf, während Annchen aus ihrem engen Kleinbürgertum nicht herauskann. Trotzdem gelingt es Fritz Eisner, beide Welten in einer großen Feier zusammenzuführen - ein Panoptikum des frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland, wobei auch kleinbürgerlicher Tratsch genüsslich ausgebreitet wird. Ein Schmunzeln bleibt für den Leser allemal. Aber außerhalb dieser Grenzen brandet das Berliner Leben, schlägt sich der Protagonist als Zeitungsschreiber für den Kulturteil durch und kämpft mit dem Aufbau seiner Existenz als Schriftsteller. Nicht der Pfaffe, nicht der Richter, nicht der Kaiser und auch nicht der Staat sind Siegelbewahrer der Menschlichkeit - nein, der Schriftsteller ist es! Und tatsächlich gelingt ihm schließlich der Durchbruch mit seinem neuen Roman (Jettchen Gebert). Gleichzeitig kümmert er sich um die Versorgung der schwerkranken Schwägerin und ahnt einer alten Liebe hinterher. Das meist jüdische Milieu fällt dabei fast nie ins Gewicht. Nur einmal blitzt der antisemitische Zeitgeist des späten Kaiserreichs auf. Einmal mehr setzt Georg Hermann ein Zeichen für Toleranz, Verständnis und Duldung - auch für noch so verschrobene Literaten und einen Morphinisten. Zahlreiche Beziehungen in Fritz Eisners Umfeld entsprechen nicht gerade dem Zeitgeist. Kritik? Fehlanzeige! Üble Bankrotte, dunkle Geschäfte und seltsame Erbschaften, es fehlt an nichts. Alltag eben, kein Schickimicki. Ein jeder ist und bleibt ein kleiner Mensch - mag er noch so bedeutend scheinen! Und dann noch das: Ein erschütternder Todeskampf mit tragischem Ausgang überschattet die Familie Eisner. Wer Georg Hermann verstehen will, muss das autobiographische Vermächtnis seiner Romanreihe Kette lesen! Lebensweisheiten und Zeitgeist in einer unterhaltsamen Verpackung.

Leider kennen heute nur noch wenige Leser den Autor Georg Hermann (1871 - 1943), allerdings lassen die neuesten Ver-lagsaktivitäten auf Besserung hoffen. Geboren als Georg Borchardt in einer jüdischen Berliner Familie, wählte er später den Vornamen des Vaters als seinen Nachnamen. Neben seiner kaufmännischen Lehre interessierten ihn vor allem Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie. Sein literarischer Werdegang begann Ende des 19. Jh., während er beim Statistischen Amt in Berlin beschäftigt war und für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften schrieb. Vor dem 1. Weltkrieg zog es ihn von Berlin nach Neckargemünd und er war maßgeblich an der Gründung des SDS, des Schutzver-bands Deutscher Schriftsteller, beteiligt, zum Schutz der Schriftsteller vor Ausbeutung durch die Verlage. In der Nazizeit war er gezwungen, das Land zu verlassen. Im holländischen Exil wurde er jedoch nach Auschwitz deportiert und von den Nazis ermordet. Seinen literarischen Ruhm - häufig wurde er nach seinem Vorbild als "jüdischer Fontane" bezeichnet - begründeten vor allem zwei Romane: "Jettchen Gebert" (1906) und die Fortsetzung "Henriette Jacoby" (1908), beide ein Millionenerfolg! Ihr gesellschaftlicher Hintergrund ist die Biedermeierzeit um 1840. Zahlreiche weitere Romane sollten folgen (insgesamt knapp zwanzig). Den stärksten autobiographischen Bezug haben die Romane der sogenannten "Kette", das sind insgesamt fünf Werke mit der Titelfigur Fritz Eisner, wovon die beiden ersten ("Einen Sommer lang", "Der kleine Gast") Ende des 19. Jh. bzw. zu Beginn des 20. Jh. spielen. Sie wurden eine Zeit lang in einer Kassette unter dem Titel "Die steile Treppe" zusammen verkauft. Der dritte Teil der Pentalogie, "November achtzehn", spielt in den letzten Tagen des 1. Weltkriegs. Die beiden letzten Teile ("Ruths schwere Stunde", "Eine Zeit stirbt") führen uns in die Zeit unmittelbar nach dem Krieg 1919 bzw. in die Hochinflationszeit 1923.

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